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Titel
In unsere Mitte genommen. Adoption im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Hitzer, Bettina; Stuchtey, Benedikt
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
240 S., 3 Abb.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Um das Jahr 1970 veränderte sich in Westdeutschland die gesellschaftlich und wissenschaftlich verhandelte Familiendefinition: Die christlich-bürgerliche Kernfamilie (heterosexuelles Ehepaar; gemeinsam gezeugte minderjährige Kinder; Haushaltsgemeinschaft) verlor ihre exklusive Stellung bei den politischen Unterstützungsleistungen und gesetzlichen Regelungen. Seitdem wird Familie in der Regel über die Eltern-Kind-Beziehung definiert, womit insbesondere alleinerziehende Mütter, aber auch unverheiratete Paare oder jüngst gleichgeschlechtliche Paare mit Kind(ern) als „Familie“ verstanden werden. Überdies fallen auch Eltern mit adoptierten Kindern in diese Familiendefinition. Bemerkenswert ist dabei, dass diese spezifische Familienform in der zeithistorischen Forschung weitgehend unberücksichtigt geblieben ist, obwohl sich über sie – wie unter einem „Brennglas“ – neue Perspektiven auf gesellschaftliche, politische, rechtliche und wissenschaftliche Veränderungen zu Familienvorstellungen und -alltag, aber auch Familienpolitik und staatliche Steuerungsversuche sowie das Verhältnis der Generationen und Geschlechter pointiert herausarbeiten lassen.

Dieses Desiderat adressieren die Herausgeber:innen Bettina Hitzer und Benedikt Stuchtey im Sammelband „In unsere Mitte genommen“. In ihrem einleitenden programmatischen Aufsatz stecken sie das Forschungsfeld Geschichte der Adoption ab, die sie als „künstliche Schaffung eines Eltern-Kind-Verhältnisses“ (S. 9) definieren.1 Damit wird begrifflich eine Differenz zu Familien mit leiblichen Kindern aufgebaut, bei denen Abstammung das Verwandtschafts- und zudem ein Rechtsverhältnis definiert. Hitzer und Stuchtey verkennen dabei keineswegs, dass auch bei adoptierten Kindern über gesetzliche Bestimmungen ihre rechtliche Stellung und Absicherung festgelegt wird. Sie betonen aber, dass im Unterschied zur leiblichen Elternschaft bereits ein der Elternschaft vorangestellter Selektionsprozess gesetzlich geregelt ist, dessen Bestimmungen sich in diachroner Perspektive verändern können. Zudem sind die rechtlichen Bestimmungen an den jeweiligen nationalstaatlichen Kontext gekoppelt, was auch die Einzelbeiträge des Bandes exemplarisch beleuchten.

Die Geschichte der Adoption eröffnet neue Perspektiven auf das gesellschaftliche Selbstverständnis, wie die Herausgeber:innen einleitend schlüssig darlegen: Schließlich lasse sich über Adoption die Bedeutung von „sozialer Elternschaft“ herausarbeiten, das zum Beispiel in der Reproduktionsmedizin weitgehend ausgeblendet bleibe, da dort das biologische Abstammungsverhältnis ausschlaggebend sei. Ferner werde über die Adoption ein Eltern-Kind-Verhältnis etabliert, das sich bei „anderen Formen der sogenannten Ersatzfürsorge“ (S. 10) nicht finden lasse, wie Kinderheimen, Waisenhäusern und Pflegefamilien. In diesem Zusammenhang verweisen Hitzer und Stuchtey gleichwohl darauf, dass es Kreuzungspunkte gebe, schließlich wurden Adoptivkinder zumindest temporär in einem Heim oder einer Pflegefamilie untergebracht. Damit zeigt sich auch, dass die Geschichte der Adoption nicht nur mit der Geschichte der Familie, sondern auch mit verschiedenen Formen der Kinderfürsorge verknüpft ist.

Die Beiträge des Sammelbandes adressieren diese Punkte jeweils exemplarisch und besitzen somit trotz der empirischen Breite der Fallstudien einen gemeinsamen analytischen Kern. Überdies wird bereits in der Einleitung auf ein Spezifikum der Geschichte der Adoption hingewiesen und in den Beiträgen wieder aufgegriffen: nationalstaatliche Regelungen und transnationale Verflechtungen. So kontrastieren Hitzer und Stuchtey die Bedeutung und Praktiken der Adoption in der „westlichen Welt“ (S. 16) zum Beispiel mit Asien und Afrika. Anschließend betonen sie, wie aus der quantitativen Zunahme transnationaler Adoptionen nach 1945 eine neue Perspektive auf „Familie“ aufkam, die sonst aufgrund finanzieller Unterstützungsleistungen (wie Kindergeld und Elterngeld) sowie gesetzlicher Bestimmung (wie zu Eheschließung und -scheidung) in der Regel in einem nationalstaatlichen Setting verortet ist. Damit ergänzen Hitzer und Stuchtey die Befunde jüngerer Forschungsarbeiten, die die transnationalen Verflechtungen von Paarbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert betonen, wenngleich zu diskutieren bliebe, inwiefern diese grenzübergreifenden Beziehungen an gesellschaftlicher und politischer Bedeutung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewannen.2

Indem der einleitende Beitrag der Herausgeber:innen diese Perspektiven aufwirft und die Einzelbeiträge diese Facetten aufgreifen, besitzt der Sammelband eine kohärente Klammer. Die Beiträge eint trotz des breiten thematischen Spektrums das Erkenntnisinteresse, anhand von Adoption die Bedeutung von Kindheit – und damit unabhängig von der biologischen Abstammung – für Elternschaft genauso wie die gleichberechtigte Entfaltung von Lebenschancen aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Zum Beispiel wird herausgearbeitet, wie im heutigen Benin die Praxis der Kindspflegschaft sowohl von der behördlichen Kolonialverwaltung wie auch der Gesetzgebung unberücksichtigt blieb, obschon sie maßgeblich die kolonialen wie auch postkolonialen Herrschaftspraktiken beeinflusste. Anhand von drei Grundbegriffen der Adoption („Liebestätigkeit“, „Rettung“ und „Fürsorge“) kann wiederum für Deutschland gezeigt werden, dass sich entgegen der in der Forschung immer wieder betonten „Kontinuitätslinie“ (S. 76) vom Kaiserreich bis ins „Dritte Reich“ mehrere Brüche ereigneten, die insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene ausgehandelt wurden.3 Das war insbesondere der Fall, als im Nationalsozialismus die Adoptionspolitik von rassenideologischen Gesichtspunkten geprägt wurde. Am Beispiel adoptierter südkoreanischer Kinder wird wiederum gezeigt, wie „die Existenz der Eltern im Adoptionsprozess“ (S. 109) getilgt wurde, wodurch die Kinder faktisch als „elternlos“ galten und infolgedessen die Adoption eingeleitet werden konnte.

Diese Beispiele argumentieren letztlich, dass das Private stets politisch war. Auch der Beitrag zur Adoption in der DDR greift diesen Sachverhalt auf und diskutiert die Bedeutung der „politisch motivierten Adoptionen“ (S. 121) als Repressionspraxis. Auch hier zeigt sich wie in den anderen Beiträgen, dass bei der Adoption deutlich in den Privatraum „Familie“ interveniert wurde – unabhängig davon, ob sich die Adoption in einem von einer Kolonialmacht besetzten Gebiet oder einem sozialistischen oder demokratischen Staat vollzog, wie der Bundesrepublik oder den USA. So intervenierten Sozialarbeiter:innen bei der Adoption afrodeutscher Kinder in die USA, um damit auf eine Regulierung und Standardisierung von Adoptionspraktiken hinzuwirken. Selbst zu Zeiten einer wirtschaftspolitischen Deregulierung in den USA während der 1980er-Jahre unter der Präsidentschaft Ronald Reagans setzte sich die politische Intervention im Privaten fort: Über Mittel einer „adoptionsfördernden Politik“ (S. 212) sollten ungewollt schwangere Mütter angehalten werden, ihre Kinder auszutragen (anstelle abzutreiben), damit sie nach der Geburt in einem politisch gesteuerten Prozess an Adoptiveltern vermittelt werden konnten.

Neue Erkentnisse liefert der Sammelband nicht nur zur Geschichte der Familienplanung und Familienpolitik oder privater Lebensvorstellungen und sozialstaatlicher Rahmungen oder dem Verhältnis der Generationen und der Geschlechterrollen. Er ist darüber hinaus anschlussfähig an allgemeine Fragen der Sozial-, Rechts-, Politik- und Geschlechtergeschichte.

Anmerkungen:
1 Für diese Definition siehe Benedikt Stuchtey, Adpotion, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 15, Stuttgart 2012, Sp. 675–678, hier Sp. 675.
2 Christoph Lorke, Liebe verwalten. „Ausländerehen“ in Deutschland 1870–1975, Paderborn 2020; ders., Binationale Paarbeziehungen und Eheschließungen im geteilten Deutschland. Praktiken, Deutungen und Agency, in: Geschichte und Gesellschaft 48 (2022), S. 394–427; Ulrike Schaper, „Deutsche Männer haben doch die Schnauze voll von Frauen wie Ihnen“. Internationale Heiratsagenturen, Frauenemanzipation und die Krise der heterosexuellen Paarbeziehung, in: Geschichte und Gesellschaft 48 (2022), S. 428–460.
3 Für die regionale Aushandlungspraxis siehe auch Michelle Mouton, From Nurturing the Nation to Purifying the Volk. Weimar and Nazi Family Policy, 1918–1945, Cambridge 2007.

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